Wehrda: Ernährung und Landwirtschaft, wie schreiben wir die Geschichte weiter?

Wenn wir uns damit beschäftigen, wie das Leben früher war, dann können wir interessante Entdeckungen machen.

Mein Wohnort Wehrda war jahrhundertelang ein typisches oberhessisches Bauerndorf.
Die Menschen haben hier ausschließlich von der Landwirtschaft – von ihren Feldern, Äckern und der Viehzucht – gelebt.

Das steht in dem Buch „775 Jahre Wehrda“ über das ich mich riesig gefreut habe, als es mir mein Nachbar – einer der letzten Landwirte in Wehrda – vorbeigebracht hat. Daraus konnte ich viele spannende Informationen entnehmen, vor allem über die Entwicklung der Landwirtschaft und der Lebensmittelversorgung. 

 

Achtung, jetzt lest euch mal das hier unten durch und schaut auf die Jahreszahlen: 

  • Von 1299 bis 1893 gab es in Wehrda eine Mühle.
    Über 500 Jahre (!) wurde das Korn gemahlen, das die Landwirte hier im Ort angebaut haben.
  • Seit Anfang des 17. Jahrunderts bis 1962 (!) gab es in Wehrda 2 Backhäuser
    Sie waren ein Treffpunkt, um Informationen und Bekanntmachungen aus dem Ort auszutauschen. Jeden Freitag wurde Brot gebacken und jeden Samstag Kuchen. In den Backhäusern standen öffentliche Backöfen, die die wehrdarer nutzen konnten, da es wegen Brandgefahr verboten war einen eigenen Backofen im Haus zu besitzen (die Bauernhöfe waren damals alle Stroh bedeckte Fachwerkhäuser, von denen ein erhöhtes Brandrisiko ausging).
    Von diesen Backhäusern erzählen mir die älteren wehrdaer Nachbarn immer gerne.
  • Bis 1969 (!) wurde jeden Tag die Milch der wehrdaer Landwirte mit dem Pferdefuhrwerk nach Marburg in die Molkerei gebracht. Der Fuhrmann brachte auf dem Rückweg Magermilch, Quark, Butter und Käse mit ins Dorf zurück.
  • So, und jetzt macht euch mal diese Zahlen hier bewusst:

    1950 = 50 landwirtschaftliche Betriebe, 1.800 Einwohner
    1960 = 32 landwirtschaftliche Betriebe
    1970 = 16 landwirtschaftliche Betriebe, Beginn der Erbauung des „Kaufparks Wehrda“ (später mit Tegut, Lidl, Aldi)
    2021 = 3 landwirtschaftliche Betriebe, 6.500 Einwohner
    2030 = 0 ???

Wenn ich mir die Entwicklung dieser Zahlen anschaue, dann wird mir eins klar: 
Welche krasse  gesellschaftliche und (land)wirtschaftliche Veränderung Wehrda in den letzten 70 Jahren durchgemacht hat!

Vom ursprünglich typisch oberhessischen Bauerndorf ist nicht viel übrig geblieben. 

Landwirte gibt es so gut wie keine mehr! 
Die Menschen ernähren sich nicht mehr von dem, was um sie herum wächst, oder was sie selbst anbauen (so wie es mindestens die letzten 800 Jahre in Wehrda der Fall war), sondern von dem, was sie bei Tegut, Lidl und Aldi finden. 
D.h. von dem, was aus anderen Kontinenten und aus grauen Fabriken der Industrie kommt. 

Nach dem 2. Weltkrieg gab es einen immensen Anstieg der wehrdarer Bevölkerung, der Industrialisierung und der Kommerzialisierung (in Form vom wehrdaer Einkaufszentrum) und somit mussten die Landwirte nach und nach ihre Vollerwerbstätigkeit aufgeben, denn auf einmal wollten alle nur noch im Supermarkt einkaufen. 

  • Wo kommt heute das Essen der Wehrdaer her?
    Das frage ich mich jetzt noch mehr, nachdem ich die Geschichte kenne. 
  • Wie kann es sein, dass wir uns in so kurzer Zeit (70 Jahre) so krass von dem entfernt haben, was weit über 800 Jahre lang normal war (sich selbst zu versorgen)? 
  • Wie sieht unsere Zukunft aus?
    • Werden wir in ein paar Jahren komplett vergessen, dass unser Essen hier draußen in Wehrda vor der Tür wachsen kann?

    • Werden wir Angst davor haben, etwas vom Feld, aus dem Wald oder von der Wiese zu essen, weil wir es nicht mehr kennen?

    • Wird es vielleicht gar keinen einzigen Landwirt mehr in Wehrda geben?

    • Werden wir über tausende Kilometer gereistes Mehl aus Kanada und Milch aus Afrika im wehrdaer Tegut/Lidl/Aldi kaufen?

    • Werden wir vergessen, dass wir selbst Brot backen können?

Wenn ich so an die Zukunft denke, dann wirken die wehrdarer Mühle, die Backhäuser, die Selbstversorger-Landwirte und der Milch-Fuhrmann fast wie eine unreale Fantasie-Geschichte. 

Wie gut, dass es Fotos gibt, die davon zeugen, dass die Landwirtschaft und die eigene Lebensmittelversorgung das Leben der Menschen über 800 Jahre hier in Wehrda geprägt haben. 

Dadurch wird mir bewusst, dass die Art und Weise, wie wir heute leben, eine neumodische Entwicklung aus dem Nachkriegs-Industrie-Zeitalter ist, und dass wir selbst in der Hand haben, wie diese Entwicklung weitergeht……. 

….wollen wir in Wehrda…

                                         …lokales oder globales Essen?
                                         …Landwirt oder Supermarkt?
                                         …selber machen oder importieren?
                                         …schätzen, was direkt vor uns liegt oder suchen nach Exotischem?
                                         …Tradition oder Kommerz?
                                         …Natur oder Industrie?

?

Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen sich kein schwarz/weiß, kein entweder/oder, sondern eine Mischung aus all dem wünschen. Das bedeutet allerdings, dass wir die wenigen noch verbliebenen Bauern unterstützen müssten und Angebote in Wehrda schaffen, um Lebensmittel nicht nur vor der Haustür anzubauen, sondern auch zu ernten, zu verarbeiten und zu verkaufen. UND wir müssen die junge Generation damit vertraut machen, was vor unserer Haustür überhaupt so alles wachsen kann. Wie wäre es, wenn wir Jugendliche dazu motivieren würden wieder Landwirte zu werden? Und wenn wir Kinder einfach mal mit auf den Acker nehmen?

Mit den Vitamin-N Lebensmitteln, die ich bei Kleinbauern einkaufe und mit der Idee für einen wehrdaer Mini Markt versuche ich jetzt einfach mal einen Anfang zu machen. 

Die Erkenntnisse über die Geschichte helfen mir, darüber nachzudenken, wie wir unsere Zukunft gestalten könnten.  

Wie denkt ihr darüber?

Eure Meinung interessiert mich, denn Wehrda steht hier wohl stellvertretend für die Entwicklung der Ernährung und (Land)Wirtschaft in ganz Deutschland

                    Eure

                   Tanja

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